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Rezension von Kevin Junk zu Moscow River  (erschienen auf fixpoetry.com, 2016)

Das Erzählen in Versen scheint so überhaupt nicht zeitgenössisch zu sein. Björn Schäfer hat sich dieser Form in seinem Band “Moscow River” angenommen. Dabei bedient er sich eben nicht epischer Klänge oder Anachronismen. Er hebt die Verserzählung ganz in die Gegenwart und sucht durch sie als Form die Ausweitung der poetischen Sprache auf ein biographisches Narrativ. Das so entgrenzte Gedicht wird zur Notiz, wird zur Biographie, wie zur Erzählung in Versen. Er erlaubt sich damit einen Text durchzuerzählen und die poetische Sprache zu einem Agenten der Handlung zu machen. Die Handlung selbst, die die Verserzählung durchzieht, tritt dabei in den Hintergrund. Lokalisiert man sie, so beginnt sie in Berlin und führt uns irgendwann nach Moskau. Wer der Erzähler ist, erfahren wir kaum, wenn wir uns an seine Biographie klammern. Dafür lernen wir seine Gefühlswelt sehr intim kennen. Auch die anderen Figuren lernen wir durch seine Augen begreifen: Wir treffen Freunde auf Partys und Dächern, wir reisen mit ihm durch Europa mit dem Zug und Erkunden schließlich Moskau. Es gibt wenige Figuren, die immer wieder auftauchen. Unverkennbar bleibt dabei immer der Erzähler selbst, mit seinem lakonisch die Welt um ihn herum sezierenden Ton.

Fast märchenhaft wird das Erzählen in Versen zuweilen, denn Passagen, die die Handlung tragen, wechseln sich mit solchen ab, die reine poetische Beobachtung ausstellen. Oft sind Verse versetzt miteinander verbunden, zerschnittene Sinneinheiten, neu zusammengeflickt, so schnell, dass der Leser sie assoziativ verbinden muss, um dem Text zu folgen. Das macht es, will man den Text auf der Handlungsebene verstehen, zuweilen schwer, den Faden der Erzählung nicht zu verlieren. Wenn es diesen Faden überhaupt zu halten gilt. Dann werden aus der Verserzählung für kurze Momente nur Verse. Auf diesen Effekt muss man sich einlassen können. Dennoch schafft es die Geschichte zu berühren. Es ist gerade der zuweilen zerhackte, oft kontemplative Rhythmus von Schäfers Sprache, der die Handlung zu einer emotionalen Reise durch Züge, Städte, Wohnungen und Freundschaften werden lässt. Es sind dann weniger die Fakten, die Zählen, als die Bilder, in ihrer Assoziation, ihrer Verkettung, die Gefühle beim Leser werken. Eine poetische Hermeneutik über das Fühlen tritt an die Stelle des Faktischen. So gelesen, gibt es viele berührende Momente in “Moscow River”.

Gleich zu Beginn sind wir also in Berlin. Schäfer gelingt durch seine Auffasungsgabe einen Einblick in das Berliner Lebensgefühl der späten 00er Jahre zu geben:

Ich treffe Titu in einer langen Allee
dort, wo er wohnt, sind die Blöcke
zwar schon saniert
doch der Fahrstuhl bleibt antiquarisch

Dieses Berlin vibrierte vor Möglichkeiten. Aus diesem Grund wirkt es so allegorisch, das Schäfer uns im ersten Gedicht Berlin zu Silvester zeigt. Die Stadt, die ständig im Umbruch ist, heute so anders als gestern, ist da noch ein ständiges Silvester. Inklusive des jovialen Umgangs mit Drogen. Wir befinden uns auf dem Dach eines Hauses. Das Feuerwerk knallt, aber die Drogen genauso: “E-Bowle sagen sie / und Blackout / zwei Minuten vor zwölf.” Der Erzähler verortet sich als Zugezogener, zugleich schreibt er sich und seinem Umgang mit der Stadt bereits Verve auf die Fahne. Seine Figuren staffieren sein Leben aus: alte Freunde, die vielleicht mal Liebhaber waren. Der Freund, Titu, der uns als Partner immer wieder begegen wird. Titu ist schwer zu fassen, Es sind Momente in denen das Banale sich mit dem Schönen verschränkt, in denen Schäfer uns überrascht:

hast du nen Vorsatz
piepst mich der Süße neben mir an
ja, ein Versuch, Experimente
die Anordnung ist mir noch unbekannt
hast du Bock meinen Schwanz zu lutschen
hm, verlockend, mein Freund steht da drüben

Die Versform gibt den Sätzen eine Dramatik mit auf den Weg, die sie in ihrer ausgeschriebene, prosaischen Form nicht hätten. So zerhackt Schäfer die Sprache und gewinnt ihr auf kleinem Raum mehr Bedeutung ab. Er bringt die Sätze dazu sich zu exaltieren. Dazu montiert er Alltagssprache neben poetische Beobachtung, alles in Versform, egal wie banal. So ringt er dem Alltag seine Schönheit ab und macht die ihn beschreibende Sprache zu seinem Verbündeten. Er seziert die Sprache und montiert sie neu. Das kann nicht immer gelingen – und ist auch nicht durchweg neu. Schäfer schreibt sich damit in den Sprech der deutschen Gegenwartslyrik ein. Dabei beweist er zwar durchaus seine eigene Tonalität, bleibt aber der ironischen Vorliebe für das Wortspiel und das Wortkombinieren treu. Es ist als ob sich die Sprache sebst fremd geworden sei, als ob sie von der Werbung aufgefressen wäre. Die Gegenwartslyrik kennt stärkere Stimmen, die tiefer in die Sprache einsteigen und sie noch stärker auseinander nehmen. Hier macht Schäfer an einem Punkt halt, der oberflächlicher ist. Dennoch kann man ihm das nicht vorhalten. Sein Band ist kohärent in Sprache und legt die Messlatte nicht an den falschen Stellen hoch. Sein Versuch ist nicht der einer poetologischen Untersuchung der deutschen Gegenwartsgrammatik. Er ist vielmehr ein Beobachter seiner selbst, ein Beobachter seiner Umgebung und ein Erzähler in Versen. Dieses Experiment vermischt sich mit einem Erzählen, das schwule Ausdrucksformen und schwules Begehren frei von Attitüde miterzählt.

Das ist mitunter die größte Stärke des Bandes, der größte Beitrag sogar: schwules Begehren wird selbstverständlich postuliert, ohne sich selbst zum Thema zu machen. Der Erzähler erlebt sexuell aufgeladene Abenteuer in russischen Saunen, treibt sich mit seinem Kumpel Maxim durch die Nächte und übernachtet in den Armen fremder Männer. Am Ende jedoch treffen wir wieder auf Titu. Er trinkt mit dem Erzähler Bier, sie toben sich kreativ aus, machen immer wieder etwas Neues. Dann will man sich auch in diesen Titu verlieben. Dann will man auch mit diesem Titu von Club zu Club ziehen. Dann hat es diese Erzählung in Versform geschafft: sie schlägt in den Bann. Eine wilde, zuweilen schwule, Erzählung, von der man beim Lesen so schnell nicht ablassen will.